Von Jens Bierschwale | Veröffentlicht "Welt" am 17.02.2017

Paralympicssieger Michael Teuber hat den 6310 Meter hohen Chimborazo in Ecuador bestiegen – als erster Mensch mit einer Teilquerschnittslähmung. Der ewige Grenzgang ist Antrieb für den 49-Jährigen.

Minus 15 Grad. Dazu eisiger Wind. Als Michael Teuber den Gipfel erklimmen will, liegen noch knapp 1000 Höhenmeter vor ihm – und die beängstigende Frage: „Werde ich es wirklich schaffen?“ Gemessen an seiner Kleidung ist der 49-Jährige gut gerüstet für den Weg hinauf auf den Chimborazo. Lange Unterhose, Windstopperberghose, Unterhemd, Funktionspulli, dicke Jacke, darüber noch eine Schicht aus Goretex. Die Schuhe hat er während der vergangenen Stunden mit Thermopadsohlen zur Vorbeugung vor Erfrierungen an den Zehen geheizt. Jetzt, um Mitternacht, kann es losgehen.

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Teuber legt Klettergurte und Steigeisen an, zieht zwei Paar Handschuhe übereinander und ist wild entschlossen, den letzten Teil dieser einmaligen Expedition zu meistern. Mit Helm und Stirnlampe am Kopf geht es los. In der einen Hand trägt Teuber einen Eispickel, in der anderen einen Wanderstock. Jeden seiner Schritte muss er prüfen, muss antizipieren, wohin er tritt, denn dort, wo andere die Standfestigkeit testen, spürt Teuber: nichts. Seit seinem 18. Lebensjahr ist er teilquerschnittsgelähmt. Unterhalb der Knie hat er keine Restfunktionen mehr.

Es ist schon ein kleines Wunder, dass er es überhaupt hier hinaufgeschafft hat, auf das Basislager in 5300 Metern Höhe. Es ist der elfte Tag in Ecuador und der achte auf dem Berg, den die Einheimischen auch „Eisiger Thron Gottes“ nennen.

13 Stunden liegen noch einmal vor Teuber und seinem Team, dessen anfängliche Zahl von 13 auf nur noch neun Unentwegte geschrumpft ist. Mit dabei sind auch Marco Cruz, 72, und Emilio Paez, 41, zwei Ecuadorianer, die den Chimborazo schon etliche Male bestiegen haben und wichtige Ratgeber für Teuber und die anderen Bergsteiger sind. Nach Cruz, der zum ersten Mal als 13-Jähriger ganz oben auf dem Gipfel war, ist sogar ein Gletscher des Chimborazos benannt, er ist eine Legende.

„Ich bin keiner, der Harakiri begeht“

Teuber bildet gemeinsam mit Kumpel Thilo Komma-Pöllath und Bergführer Paez eine Seilschaft, er muss das machen, um bei einem möglichen Fehltritt nicht abzustürzen. Später sagt er der „Welt“: „Ich bin keiner, der Harakiri begeht. Aber ich begreife mich als Grenzgänger, der Limits auslotet.“

Grenzgänger – für einen Teilquerschnittsgelähmten ist das eine mehr als ungewöhnliche Bezeichnung, für Teuber aber ist sie zum Lebensinhalt geworden. 30 Jahre lang lebt er schon mit seinem Handicap, lange wusste er nicht, ob er jemals dem Rollstuhl würde entfliehen können, und heute gilt er als bestes Beispiel für gelebte Inklusion. Fünfmal hat er bei den Paralympics Gold auf dem Rad gewonnen, aber einen 6300 Meter hohen Berg wie den Chimborazo hat auch er noch nie bestiegen. „Ich bin schon jemand, der sehr zielorientiert ist. Aber wenn vier Teammitglieder auf dem Weg nach oben umkehren, macht einem das schon zu schaffen“, erzählt er später. „Wenn an einer Kletterpassage schon die Gesunden verweigern, was soll dann ich sagen? Ich finde ja gar nicht richtig Halt mit den Füßen. Aber ich kann viele Dinge am Berg antizipieren, mich auf eventuelle Probleme vorbereiten.“

Derlei Fähigkeiten kommen Teuber auch auf dem letzten Teilstück zugute. Zunächst geht es über eine Traverse an einer Felsbastion, gefrorenes Geröll, Schnee und Eis wechseln sich als Untergrund ab. Dann folgt die Schlüsselstelle auf dem Weg zum Gipfel: rund sechs Meter Klettern im Schwierigkeitsgrad zwei bis drei. Teuber hat Probleme, schafft es aber mithilfe der Kollegen. Wie auch die nächste Herausforderung, einen Anstieg über den 45 Grad steilen Gletscher mit rund 700 Höhenmetern. Jeder Meter nach vorn bedeutet einen Meter nach oben. Und das alles mitten in der Nacht.

Für Teuber sind das alles nur Randerscheinungen. Der Mann aus Dietenhausen im Landkreis Dachau ist völlig fokussiert, er will hinauf, will das schaffen, was vor ihm noch keiner mit einem irreversiblen Teilquerschnitt geschafft hat. „Ich habe keine Zeit, da großartig auf die Natur zu achten oder die Aussicht zu genießen. Stattdessen schaue ich, dass die Steigeisen sauber greifen und ich den Fuß immer an die richtige Stelle setze. Mit den Wanderstöcken oder Eispickeln halte ich dann dagegen und habe so fast immer an drei Punkten Kontakt zum Berg. Das ist aber verdammt anstrengend“, erklärt er seine Klettertechnik.

„Näher kann man der Sonne nicht sein“

Kurz vor dem Gipfel aber gibt es Probleme. Kumpel Komma-Pöllath wankt, der Kameramann wankt, Teuber kann nur noch auf allen vieren krabbeln. Der erfahrene Bergführer Paez erkennt das Problem: „So kommen wir da nie hoch“, ruft er Teuber zu. „Du musst dich kraftsparender bewegen.“ Der Tipp fruchtet, in den Sonnenaufgang hinein nimmt das Expeditionsteam den Gipfelsturm vor. Nach siebeneinhalb Stunden ist Teuber am Ziel: „Näher kann man der Sonne und den Sternen auf unserem Planeten nicht sein“, wird er später in seinem Tagebuch festhalten.

Der nahe des Äquators gelegene Chimborazo ist auch deshalb einmalig, weil er vom Erdmittelpunkt aus gemessen der höchste Punkt der Erde ist, höher noch als der Mount Everest im Himalaja. Die Höhenangaben schwanken von 6268 bis 6310 Meter. Das Problem für Teuber: Der Abstieg ist für ihn mit seinem Handicap noch schwieriger zu bewältigen als der Aufstieg. „Einige Kletterstellen am Berg hätte ich allein nicht geschafft, die gingen nur mithilfe des Bergführers“, so Teuber. „Beim Runtergehen wäre ohne den Bergführer meine Überlebenschance 50:50 gewesen. Es ist immer extrem steil, man sieht fast immer nur in einen Abgrund. Da hätte ich ohne Absicherung leicht herunterstürzen können.“

Der Chimborazo ist die höchste Erhebung Ecuadors und gemessen vom Erdmittelpunkt sogar der höchste Berg der WeltDWO SP Ecuadorlocator mku jpg
Quelle: Infografik Die Welt

Es soll noch einmal fünfeinhalb Stunden dauern, ehe Teuber und sein Team das Lager auf 4850 Metern Höhe erreichen. „Die härteste und gefährlichste Tour meines Lebens ist zu Ende“, notiert Teuber in seinem Tagebuch. „Den Rest des Tages verbringen wir mit Ausruhen und Essen bei den Cruz-Hütten. Dann fallen wir wie tot in die Betten.“

Unfall auf dem Weg in den Surfurlaub

Um die Einmaligkeit seiner Leistung nachvollziehen zu können, muss man zurückgehen in den Sommer 1987: 1. August, ein Tag, der das Leben von Teuber komplett ändern soll. Zusammen mit seinem Freund Daniel und dessen Partnerin Susanne will der Gymnasiast noch einmal die Unbeschwertheit vor dem entscheidenden Abiturjahr genießen. Sechs Wochen Surfurlaub in Portugal sind geplant, in Guincho an der Atlantikküste will Teuber sein eigens entworfenes Brett ausprobieren. Es wird nie dazu kommen.

Das Trio ist auf der Landstraße D1089 unterwegs, als Fahrer Daniel um 13.31 Uhr kurz vor Tulle in den Sekundenschlaf fällt. Der weiße Golf GTI kommt von der Fahrbahn ab, rast in einen Graben und prallt mit rund 70 km/h auf ein Abflussrohr aus Beton – das einzige dort im Umkreis von 20 Kilometern. Während Daniel und Susanne den zerstörten Wagen aus eigener Kraft verlassen können, ist Teuber eingekeilt auf dem Beifahrersitz. Auch er will raus aus dem Golf, aber er kann nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben spürt er, dass er seine Beine nicht mehr bewegen kann.

Wenn man in solch einer Situation überhaupt von Glück im Unglück sprechen kann, dann wohl nur deshalb, weil die Erstversorgung klappt. Ein Arzt, der auf dem Weg zur Arbeit zufällig am Unfallort vorbeikommt, erfasst sofort Teubers schwere Verletzung. Per Hubschrauber wird das Unfallopfer in die Universitätsklinik Limoges geflogen. Dort operiert ihn Chefarzt Dr. Szapiro acht Stunden lang, setzt eine Titanplatte an den verletzten Lendenwirbeln ein. Hinterher sagt er zu Teubers Mutter, die inzwischen im Krankenhaus eingetroffen ist: „Wir haben das Beste für Ihren Sohn getan.“

Die Diagnose ist dennoch schwerwiegend: Luxationsfraktur des zweiten und dritten Lendenwirbels, Knochensplitter im Rückenmark, Funktionsverlust der unteren Gliedmaßen, inkomplette Querschnittslähmung. Oder wie Teuber es in seiner Autobiografie mit dem Titel „Aus eigener Kraft“ beschreibt: „Durch den Bruch der Lendenwirbel und die Quetschung des Rückenmarks Lähmung von der Hüfte abwärts. Das Horrorszenario am Horizont: ein Leben im Rollstuhl.“

Teubers Kampf in ein neues Leben beginnt in Zimmer 416 auf der vierten Etage der neurologischen Station der Universitätsklinik Limoges. „Nach meinem Unfall habe ich eine Resilienz in mir entdeckt, die Fähigkeit, mit solchen Schicksalsschlägen umzugehen. Mir langfristig Ziele zu setzen, darauf hinzuarbeiten – das alles habe ich in den drei Jahren der Rehabilitation in mir entdeckt, sagt Teuber der „Welt“ im Rückblick. „Lange Zeit war gar nicht klar, dass ich jemals überhaupt wieder aus dem Rollstuhl herauskomme.“

Es ist seiner Willenskraft geschuldet, dass er es schafft, nach rund drei Jahren kann er tatsächlich ohne fremde Hilfe ein paar Schritte laufen. Für ihn sind es entscheidende Schritte auf dem Weg in sein neues Leben. „Ich bin ein Typ, der nicht groß zurückblickt, das ist meine Art, durchs Leben zu gehen. Das ist auch eine Botschaft für andere: In der Vergangenheit gefangen zu sein, das bringt einen nicht weiter.“

Fünfmal Paralympicssieger

Für Teuber ist das zu seinem Lebensmotto geworden, nicht hadern, das Handicap annehmen. Der Mann, der in Portugal 1987 surfen wollte, entdeckt seine Liebe zum Radsport und entwickelt sich zu einem der besten Fahrer weltweit. Gleich fünf Olympiasiege holt er zwischen 2004 und 2016. Allein im vergangenen Jahr hat er rund um seinen Triumph in Rio, wo er im Einzelzeitfahren auf der Straße siegte, 19.000 Trainingskilometer absolviert. Dann begann er mit der Vorbereitung auf die Bergtour. Um all diese Strapazen bewältigen zu können, benutzt Teuber unterhalb der Knie wahlweise Kunststoff- oder Karbonschienen zur Stabilisation.

Nach seiner Expedition in Ecuador gönnt sich der 49-Jährige jedoch keine Auszeit. Am Samstag schon steht ein Rad-Trainingslager auf Gran Canaria an. „Bei der WM im August will ich wieder um Gold mitfahren“, sagt Teuber. Und nach einer kurzen Pause: „Ich fahre lieber 160 Kilometer Rad, als dass ich mich einen ganzen Tag ins Büro setze.“

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